Nils Blog

Begenungen

Sonntagmorgen. Während der Deutsche sein wohlverdientes Wochenende noch im Bett verbringt, sieht es in Israel anders aus. Der Shabbat war vorbei und so hieß es für uns wieder arbeiten bzw. Programm. 

Nach einem kurzen Frühstück im Kibutz machten wir uns auf den Weg zur Bushaltestelle. Die erste Aufgabe des Tages hieß den passenden Bus und die richtige Bushaltestelle zum Aussteigen zu erwischen. Das ist in dieser Hinsicht schwer, da weder Jannik noch ich des Hebräischen mächtig waren und wir so auf die Infos unserer Freiwilligen und Google Maps vertrauen mussten. Der Weg zur Bushaltestelle war der Standstreifen einer zweispurigen Schnellstraße. Auch wenn die Autos und LKW mit voller Geschwindigkeit an einem vorbeirauschten, hatte ich nicht sehr große Bedenken. Durch mein Jahr in Malaysia bin ich wohl etwas resistenter, gegenüber dem Straßenverkehr im Ausland. Das Mantra was wir seit dem gestrigen Abend hatten war: Bus Nr. 271 und Haltestelle Lochamej haGethaot. So warteten wir im Schatten der Bushaltestelle, dass der Bus mit der gewünschten Nummer auftauchen würde. Man muss an dieser Stelle vielleicht noch erwähnen, dass Busse in Israel nicht automatisch an jeder Haltestelle anhalten, sondern man gezwungen ist, den Bus nochmals extra anzuhalten. Wie in Deutschland auch handelt es bei den Abfahrtszeiten eher um Empfehlungen wann die Busse denn kommen, aber in Israel kann man sich noch weniger darauf verlassen als in Deutschland. Deswegen machten wir uns auch schon eine gute halbe Stunde früher auf den Weg als wir mussten. Doch glücklicherweise kam unser Bus rechtzeitig und wir konnten die zehn Minuten im Bus relativ entspannt verbringen. Der Zeitvorschuss gab uns auch die Möglichkeit in Lochamej haGethaot nach dem Standort der Organisation zu schauen.

Bei ASF haben die Freiwilligen meistens nicht nur ein Projekt, sondern sind bei zwei unterschiedlichen Projekten zum Arbeiten. Wir besuchten heute das Hauptprojekt, der Freiwilligen, Kivumim. Diese Organisation kümmert sich um Menschen mit Behinderung und unterstützt sie dabei ein eigenständiges Leben zu führen. Kommt das jemanden bekannt vor? Bei mir wurden jedenfalls Erinnerungen an mein Projekt in Malaysia geweckt. Doch viel mehr wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Iris, eine Koordinatorin des Projekts, hatte für uns ein kleines Meeting organisiert. Doch bevor dieses startete zeigte sie uns noch das Center in einem kleinen Rundgang. Wie auch in Malaysia gab es hier einen Shop und einen Computerraum. Auch wenn alles etwas moderner und besser aussah fühlte ich mich doch wieder zurückversetzt in die Zeit, in der ich Menschen versucht hatte etwas am PC beizubringen.

Das Meeting war mehr eine Versammlung einzelner Menschen, die entweder an dem Programm teilnahmen oder bei Kivunim arbeiteten. Jeder stellte sich kurz vor und Jannik und ich erklärten aus welchem Grund wir nach Israel gekommen waren. Schon hier war den Menschen anzusehen, dass unsere alleinige Präsenz und unser Interesse geschätzt wurden. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob das Ausländern in Deutschland auch so positiv auffällt. Lena, deren Bus nicht gerade pünktlich fuhr, stieß zu uns hinzu und wir schauten gemeinsam den Imagefilm des Projekts an. Dort wurden uns auch schon ein paar Eindrücke gegeben, was uns erwarten würde. Nun war aber Lena noch mit einem richtigen Meeting an der Reihe und wir hatten etwas Zeit, die wir zu einem kleinen Rundgang in Lochamej haGethaot nutzten. Besonders eindrucksvoll war ein Aquädukt, das noch aus der Zeit der Römer ist und sich noch in sehr gutem Zustand befindet. Doch die Hitze machte den Rundgang kürzer als gewohnt und ehe wir uns versahen saßen wir wieder im klimatisierten Raum und genossen das freie WLAN, um wenigstens ein paar Statusmeldungen zu versenden. 

Nachdem nun jeder ein Meeting gehabt hatte hielt uns nichts mehr im Center. Viele der Mitglieder leben nicht in einem Heim sondern kommen für die Arbeit ins Kibutz. So hatten wir nun frei und was macht wenn man frei hat und das Meer vor der Haustür liegt? Richtig man geht an den Strand. Da ich den gestrigen Strandtag ohne Sonnenbrand überstanden hatte freute ich mich sehr wieder den Sand zwischen den Zehen zu spüren. Wie es für andere gewesen wäre möchte ich mir nicht ausdenken. Nahariya ist für seinen schönen Strand bekannt. Doch mindestens genauso gut kann man dort surfen. Während Johanna morgens einen Tauchkurs absolviert hatte war Lena in einem Surfkurs. Bei den Wellen die an diesem Tag jedoch herrschten, hätte selbst ein gefaltetes Papierboot die Küste entlangsegeln können. Doch für das Baden in der Bucht war uns das herzlich egal. Gegenüber Tel Aviv war der Strand hier deutlich leerer und auch die Anzahl an blonden Menschen war deutlich gefallen. Ich hatte das Gefühl, das erste Mal an einem Ort in Israel zu sein, an dem nicht so viele Touristen sind, wie an anderen Orten.

Auch wenn Sonnencreme in Urlaubsländern ein ständiger Begleiter bin ich nach wie vor kein Freund davon. Trotzdem wäre es vermessen zu denken, dass man sich keinen Sonnenbrand holen kann. Ich war schon im Begriff das zweite Mal die lästig gelbe Tube aus dem Rucksack zu holen, als Lena mir sagte wir würden nicht mehr so lange bleiben. Welch Glück. Jannik hatte sich unterdessen schon zu seinem Projektpart mit Johanna aufgemacht und nun wurde es auch für Lena und mich Zeit in einer WG vorbeizuschauen. 

Nach einem kleinen Spaziergang durch die Stadt von Nahariya kamen wir zu relativ neuen Hochhäusern. In einer Appartement-Wohnung teilten sich vier junge Frauen das zu Hause. Als wir kamen waren allerdings nur Liat und Adi da. Die beiden waren für mich der Inbegriff von dem was mir teilweise auch schon in Malaysia erhofft hatte. Hier waren wir keine Pfleger so wie ich es kannte, sondern viel mehr Unterstützer bei kleinen Aufgaben. Teilweise so klein, dass ich noch nicht mal etwas tun konnte und mich wie das fünfte Rad am Wagen fühlte. Das so etwas demotivierend ist muss ich niemanden erzählen. Ich fühlte mich jedoch gleich besser als Lena erklärte, dass es ihr teilweise auch so geht, wenn andere Sozialarbeiter in der Wohnung sind. Unsere Hauptaufgabe war es heute die beiden zu einem Treffen zu begleiten, bei dem auch andere Mitglieder von Kivunim sein würden. Dazu nahmen wir ein Taxi und fuhren zu einem kleinen Wohnhaus. In dem Wohnzimmer warteten schon gut ein Dutzend Menschen.

Das Problem, das mir hier erst richtig bewusst wurde war, dass ich an zwei Händen meine Hebräisch-Vokabeln aufzählen konnte. Dementsprechend viel kann ich auch über dieses Treffen berichten, aber es war auch so sehr interessant mit den Informationen, die ich durch Lena bekam.

Bevor wieder wieder zurück in die Wohnung fahren wollten gab es noch für alle Abendessen und für mich das erste Mal Fleisch seit einer Woche. Hatte ich es vermisst? In keinem Moment! Obwohl auch Adi und Liat etwas gegessen hatten mussten wir in der WG erst nochmal ein Croissant und eine Tee zubereiten, bevor sie schlafen gehen wollten. Obwohl ich wieder kaum etwas gemacht hatte bedanken sich beide bei mir und wir verließen kurz nach 22 Uhr wieder das Haus. Das war der erste Arbeitstag. Irgendwie doch länger als gedacht, besonders da ich noch mit dem Bus in mein Kibutz fahren musste. Auf dem Weg zur Bushaltestelle besprachen wir noch wie der Plan für den morgigen Tag aussah ehe ich wieder in einem Bus saß und hoffte die richtige Haltestelle zu erwischen.

Glücklicherweise kamen sowohl Jannik als auch ich gut wieder im Kibutz an, sodass wir am nächsten Tag wieder zusammen zum Hebräisch-Unterricht aufbrechen konnten. Als Treffpunkt war die WG der Freiwilligen vereinbart. Dort erwartete uns als erstes jedoch weder Johanna oder Lena sondern Ronnie, der Lehrer. Der Plan zu Hause etwas zu lernen wurde aber schnell wieder verworfen und die Gruppe machte sich auf ans Meer, um im Café Landwer mehr praktisch als theoretisch das Hebräisch zu trainieren. Auf dem Weg wurden wir schonmal mit den Farben in der Landessprache ausgestattet, aber ehrlich gesagt tat ich mir nicht leicht eine mir komplett neue Sprache zu lernen. Es erinnert mich aber etwas an meinen Malay-Unterricht im McDonalds, der damals auf Außenstehende wohl auch sehr komisch gewirkt haben musste. So saßen wir am Meer mit einer Lemonana und redeten. Wobei Jannik und ich eher versuchten zuzuhören. Es gibt deutlich schlechtere Orte um zu lernen.

Nach gut zwei Stunden war der Unterricht vorbei und wir machten uns zum Supermarkt auf, um etwas für das Mittagessen zu kaufen. Mit Reis und viel frischem Gemüse im Gepäck ging es dann wieder in die WG. Während wir uns beim Kochen noch recht einig waren wie wir das Ganze zubereiten, erntete ich beim Nachtisch etwas Verwunderung. Warum sollte man Melone mit Feta kombinieren? Gegenfrage: Warum nicht? Ich konnte am Ende doch alle überzeugen.

Gut gestärkt stand nun wieder Arbeit auf dem Programm, wobei ich das eher als eines der Highlights bezeichnen würde. Lena und ich waren auf dem Weg zu einer Shoa-Überlebenden. Ich hatte die Ehre mit Rahel eine Stunde zu verbringen. Das Foto zeigt sie zusammen mit meiner Wenigkeit. Doch spielen wir ein kleines Spiel: Wie alt ist diese Dame? 80 oder 90? Beides falsch! Rahel hat letztes Jahr ihren 100. Geburtstag gefeiert. Ich würde es aber nicht glauben, wenn sie mir nicht Bilder davon gezeigt hätte. Mittlerweile darf sich Rahel Großmutter einer Großmutter nennen. Ich glaube mit so jemanden habe ich vorher auch noch nie gesprochen. Eigentlich wäre es ja meine Aufgabe jetzt etwas für sie zu tun, aber sie sagte zu mir breitwillig: „100 Jahre hat man auch etwas für mich getan, jetzt kann ich dir auch etwas helfen.“ Das sollte nicht die einzige Aussage sein, die für mich sehr eindrucksvoll und weise klang. Rahel erzählte mir die ganze Stunde sehr viele Geschichten aus ihrem Leben und beantwortete all meine Fragen mit Vergnügen. Ich hoffe, dass ich irgendwann auch einmal jemanden so beeindrucken kann, wie sie mich. In diesem Alter noch am Computer zu arbeiten oder Babysocken zu stricken ist für mich einfach nur unglaublich stark. Ich könnte nun viel über das Gespräch mit Rahel erzählen, doch ich überlasse es qualifizierteren Personen. Lenas Mutter hat im Tagesspiegel einen sehr schönen Artikel über das erlebnisreiche Leben von Rahel geschrieben. Ich würde jedem empfehlen diesen zu lesen.

Mein Kopf war nach dieser Stunde voller Gedanken. Diese Frau hatte es innerhalb einer Stunde geschafft, dass ich sie in mein Herz geschlossen hatte und noch so viel länger ihr hätte zuhören können. In mir war ein Gefühlschaos ausgebrochen. Auf der einen Seite war ich so glücklich und dankbar die Stunde mit Rahel verbracht haben zu dürfen, aber auf der anderen Seite wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich wahrscheinlich sie nie wieder sehen würde. Spätestens ab diesem Zeitpunkt bedauerte ich es nicht noch länger in diesem Land sein zu können.

Doch zum Nachdenken blieb erstmal keine Zeit. Wir mussten uns sputen um den Bus noch zu bekommen. Völlig außer Atem saßen wir im Bus und redeten über die Begegnung gerade eben. Ich war Lena sehr dankbar, dass sie auch ein paar Fotos von uns beiden gemacht hatte. Nun ging es aber zum Fahrrad fahren mit Mitgliedern von Kivunim. Ich wusste aber nicht, dass der Treffpunkt dafür nochmal fast 2 Kilometer von der Haltestelle entfernt war. Lena hatte es jedoch geschafft, dass uns eine Frau mit ihrem Auto die Strecke mitnahm.

Am Treffpunkt angekommen waren schon alle bereit zur Abfahrt. Also schnell einen Helm gesucht und ein Fahrrad organisiert und schon konnte es los gehen. Neben den normalen Fahrrädern gab es auch Tandems bei denen vorne ein Freiwilliger saß und hinten ein Mitglied von Kivunim. Ausgestattet mit gelben Warnwesten setzen wir uns in Bewegung. Die ersten Kilometer klappte alles mühelos, doch als auf einem Feldweg plötzlich Erde und dann Schlamm auftauchte kippte ein Tandem auf die Seite. Statt Bestürzung konnte ich jedoch nur Belustigung sehen und bevor dem hilflosen aber lachenden Mitglied geholfen werden konnte musste erstmal ein Bild von der Ungeschicklichkeit gemacht werden. Eine sehr lustige Situation.

Unser Weg führte an der Küste weiter und mit der untergehenden Sonne verwandelte sich der Ausflug wieder in eine unglaublich schöne Erinnerung. Nach zwei Stunden erreichten wir teils erschöpft teils sehr glücklich unseren Startpunkt. Bevor der Tag allerdings zu Ende ging fuhren Lena und ich allerdings nochmal nach Nahariya, um bei Adi und Liat vorbeizuschauen und ihnen den Abend zu helfen. Die beiden freuten sich genauso sehr wie ich wieder da zu sein und etwas zu tun. Doch ich war froh als ich um 22 Uhr wieder in den Bus steigen konnte, um die ganzen Begegnungen der letzten beiden Tage alleine und in Ruhe reflektieren zu können.

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