Nach gut vier Tagen hieß es Abschied nehmen. Sarajevo und dessen Stadtkern hatten wir nun zur Genüge erkundet und nun ging es auf die Straße. Damit wir pünktlich abfahren können, sollten wir uns alle um 8:45 Uhr treffen. Doch die geplante Abfahrtszeit sollte sich nach hinten verschieben. Nahezu alle waren bereits in der Lobby versammelt, als es von unseren Teamenden hieß, dass wir einen positiven Corona-Fall hätten. Ehrlich gesagt ist das meine größte Angst auf dieser Reise, weil positiver Test heißt Programm zu Ende. Entsprechend angespannt war auf einmal die Stimmung unter uns allen. Jeder von uns wurde mit einem Testkit ausgestattet und wir trugen schon vorsichtshalber Masken. Stäbchen rein und hoffentlich nicht infiziert sein, war die Devise in diesem Moment. Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert ich war, als ich nach 10 Minuten immer noch keinen zweiten Strich erkennen konnte. So ging es auch den anderen, aber trotz der befreienden Nachricht für einen selbst blieb die Stimmung gedrückt, da wir ja alle mehr oder weniger mit der Teilnehmerin Kontakt hatten. So ging es dann für alle minus eins schlussendlich doch zum Bus und hier galt so oder so Maskenpflicht. Ein letztes Mal aus dem Busfenster winken, mit der Hoffnung, dass wir nicht noch mehr Gruppenmitglieder verlieren und losging die Fahrt. Bis irgendwann wieder Sarajevo.
Relativ schnell hatten wir die Hauptstadt verlassen und befanden uns in der Republika Srpska. Doch statt über Autobahnen ging es über kurvige Straßen in das „Hinterland“ von Bosnien-Herzegowina. Durch das immer noch relativ kühle Wetter hingen die Wolken relativ tief am Himmel zwischen den Hügeln. Der Bus schlängelte sich die Hügel hinauf und nach ein paar Minuten Nebel sahen wir Wolkendecke über dem Tal liegend. Trotzdem war das Wetter auf dem Plateau nicht wirklich ungetrübt sonnig. Ehrlich gesagt, war mir das aber eigentlich egal, da ich ja sowieso im Bus saß. Allerdings wollte ich an einem Blogbeitrag schreiben und der dauernde Wechsel von Links- und Rechtskurven machte das durchaus herausfordernd. Daher beobachtete ich wieder die Landschaft und die Dörfer, an denen wir vorbeifuhren. Gerne hätte ich dem Busfahrer ein Zeichen gegeben, um eine kurze Pause zu machen. Das Leben hier ist sicher ein anderes als in Sarajevo, aber sowohl die Häuser wie auch die Menschen zogen an uns vorbei. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass ich mich in den Alpen befinde, denn vieles hier sah vertraut aus. Die freilaufenden Kühe und Schafe an der Straße findet man wohl bei in Deutschland eher weniger. Ein weiteres Indiz, dass wir uns nicht in den Alpen befanden, waren die serbischen Flaggen, die in sich in den Dörfern an jeder Laterne hingen. Wie erwähnt befanden wir uns nun in der anderen Entität von Bosnien-Herzegowina, die sich mehr Serbien zugehörig fühlt. Auch hier wäre es interessant gewesen, Sichtweisen und Meinungen auszutauschen, aber unser Fokus lag auf anderen Themen.
30 Minuten vor Srebrenica stand unser Bus vor einer Kreuzung. Wie in einem Film schien es, dass sich unserer Busfahrer entscheiden musste, welcher Straße er nun folgt. Der Bus steuerte auf die linke schmalere der beiden Straßen zu und um ehrlich zu sein: Für mich sah diese Straße eher wie ein Weg aus, der nicht für einen Bus geeignet ist, aber was wusste ich schon? Nun weniger als 5 Minuten später stand der Bus wieder und statt vorwärtsging es nun zurück. Scheinbar hatte sich der Busfahrer doch gegen die schmale Straße entschieden, die kaum breiter als der Bus war und da es keine Wendemöglichkeit gab, mussten wir den guten Kilometer, den wir schon zurückgelegt hatten, rückwärts fahren. Mit je einem Teamer vor und einem hinter dem Bus ging es in Schrittgeschwindigkeit zurück. Ich möchte es so sagen: Die Bewohner der wenigen Häuser, an denen wir vorbeigefahren waren, schauten nicht schlecht, als sich auf einmal der Bus sich wieder rückwärts näherte. Egal welcher Aktivität gerade nachgegangen wurde, für einen Moment hielten alle inne. So etwas passiert wohl auch nicht allzu häufig hier. Für uns war das trotz des Umwegs eine lustige Situation und alle hatten Spaß beim Beobachten der erstaunten Gesichter der Einheimischen.
Kurze Zeit später erreichten wir über die rechte Abzweigung Srebrenica bzw. eher Potočari. Zwar wird der Name Srebrenica immer mit dem Massaker verbunden, doch die Gedenkstätte sowie ein Museum befinden sich in Potočari. Warum ist das so? Nun ich werde auch hier versuchen wieder die Ereignisse eines ganzen Wikipedia Eintrags in Kürze zusammenzufassen, aber für tiefere Details gibt es sicher bessere Quellen als diesen Blog. Wir hatten das Glück, dass unser Museumsführer zum einen einer der Kuratoren des Museums ist und zum anderen das Massaker selbst mit- und überlebt hat als er 13 Jahre alt war. Mit seinen Eindrücken und den Informationen rekonstruiere ich die Lage:
Im Bosnienkrieg mussten viele muslimische Bosniaken aus Dörfern fliehen, die von den Serben erobert und zerstört wurden. Srebrenica entwickelte sich bald zum Sammelbecken der gestrandeten Binnenflüchtlinge. Die Einwohnerzahl explodierte sprichwörtlich, denn bis zu dem Massaker befanden sich hier zehnmal so viele Bosniaken als vor dem Krieg. Doch ein florierendes Leben als Flüchtling gibt es in einem Krieg wohl selten und auch hier war die humanitäre Lage sehr schlecht. Durch die Belagerung der Serben gab es in der Stadt kein fließend Wasser oder Elektrizität. Auch an Essen zu kommen, war eine Herausforderung. Daher entschied sich 1993 General Morillon von den UN, ohne vorherige Rücksprache die Region rund um Srebrenica als Schutzzone zu erklären. Doch die Belagerung der bosnischen-serbischen Truppen ging weiter, trotz dessen, dass nun Blauhelmsoldaten im Gebiet stationiert waren. Das Hauptquartier dieser Truppen war der Ort unseres Vortrags: eine ehemalige Batteriefabrik in Potočari. Bis 1995 blieb die Lage dauerhaft angespannt und verbesserte sich auch durch die UNPROFOR-Truppen nicht. Die Angriffe auf die Schutzzone nahmen zu und auch durch die Unterbesetzung der UN-Truppen drangen die bosnisch-serbischen Truppen immer weiter vor. Die 12 Beobachtungsposten, die von niederländischen Truppen besetzt wurden, griffen jedoch nicht wirklich ein und so fiel die Schutzzone am 11.07.1995. Dies lag aber auch an der fehlenden Unterstützung der Luftangriffe seitens der Vereinten Nationen. Sicherlich war die Lage nicht einfach einzuschätzen und ich kann hier nur widerspiegeln, was ich aufgenommen habe. So konnten die Truppen rund um Ratko Mladić relativ ungehindert nach Srebrenica einmarschieren. Es gibt hier ein relativ bekanntes Interview, in dem sich der General glücklich zeigt nach über 500 Jahren Rache an den Muslimen zu nehmen. Diese Wortwahl und das Motiv haben mich beschäftigt, weil ich es ähnlich wie die Rassenlehre im dritten Reich zeigt, wie sich Kriegsverbrecher auf längst vergangene Ereignisse stützen und diese für ihre Ideologie nutzen.
Während also immer mehr serbisch-bosnische Soldaten in Srebrenica einmarschierten, floh die muslimische Bevölkerung nach Potočari zur Basis der UN-Blauhelmsoldaten. Die Basis war aber nicht darauf vorbereitet 20.000 Menschen unterzubringen und daher mussten viele Menschen davor warten. Am kommenden Tag erreichten Busse Potočari, um die Frauen und Kinder von diesem Ort weg und in sichere Gebiete zu bringen. So war zumindest die offizielle Information für die Blauhelme. In Wahrheit sollte man eher den Begriff Deportation nutzen. Viele Männer trauten dieser Situation jedoch nicht und machten sich auf eine Wanderung mit dem Ziel Tuzla. Eine Kolonne mit der Länge von 15 Kilometer wollte die gut 100 Kilometer zu Fuß zurücklegen und so in die Freiheit laufen. Jedoch entdecken die Truppen der serbisch-bosnischen Armee den Trek, teilten diesen und zwangen die Männer sich zu ergeben. Auch hier wurden diesen wieder falsche Versprechungen gemacht, dass sich die Truppen um die Männer kümmern würden. Ich denke, man kann hier durchaus eine Parallele zu der Ankunft in Arbeits- und Konzentrationslagern im Dritten Reich ziehen. Nicht wenige hatten sich diesen falschen Versprechungen hingegeben, auch aus dem Grund, dass sie nach einigen Tagen Wanderung ohne Essen und Trinken vollkommen entkräftet waren. Wer kann es Ihnen verübeln? Andere versteckten sich mehrere Wochen im Wald oder entkamen nach Tuzla, aber ein Großteil wurde gefangen genommen und in den folgenden Tagen exekutiert. Einige hatten das vermeintliche „Glück“ am Leben gelassen zu werden, um die Leichen in Massengräbern zu bringen, bevor sie dann selbst erschossen wurden. Auch hier wieder das gleiche Vorgehen, wie es damals in den Konzentrationslagern der Fall gewesen war. Geschichte wiederholt sich also doch. Doch im Gegensatz zu den Verbrennungen damals gab es rund um Srebrenica viele Massengräber. Die primären Gräber entstanden, wie es der Name vermuten lässt, direkt nach der Exekution. Um diese Massenhinrichtung jedoch zu vertuschen, entstanden nach kurzer Zeit später schon sekundäre Massengräber, die weiter verteilt waren und nicht so viele Leichen enthielten. Bis zum heutigen Tage werden diese Gräber gesucht, Leichenteile exhumiert und durch DNA Analysen versucht, die Personen zu identifizieren.
In acht Tagen hatten die bosnisch-serbischen Truppen 8.372 Menschen umgebracht. Bis heute ist der größte bekannte Genozid seit dem Zweiten Weltkrieg und die Aufarbeitung dauert an. In Potočari gibt in den Hallen der UN-Blauhelmsoldaten ein Museum, in dem Bilder, Geschichten und Überbleibsel aus der Zeit des Massakers. Seit 2007 ist die der Ort nationale Gedenkstätte und wird von staatlichen Einheiten geschützt. Nun kommt aber das große Doch: Bis zum heutigen Tag wird der Genozid von Srebrenica von der Republika Srpska sowie Serbien nicht anerkannt und es findet in diesen Regionen keine Aufklärung zu diesem Thema statt. Es ist auch nach 30 Jahren immer noch ein brisantes Thema und jedes Jahr werden zum Jahrestag die sterblichen Überreste der identifizierten Personen beerdigt.
Wir verbrachten viel Zeit in dem Museum, sahen uns verschiedene Exponate an und hörten uns die Erfahrungsberichte unseres Museumsführers an. Doch die emotionalsten Programmpunkte sollten erst noch kommen. Nach unserer Führung wurden wir in einen Teil des Museums geführt, in dem eine ältere Frau auf uns wartete. Ihr Name ist Fadila Efendić und sie ist die Vorsitzende der „Mütter von Srebrenica“. 1995 verlor sie sowohl ihren Mann als auch ihren Sohn durch das Massaker, aber sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Gedenken hochzuhalten. Wir hatten die Gelegenheit, sie sehr persönliche Fragen an sie heranzutragen und obwohl diese Frau und Mutter so viel Leid erlebt hat, war es ihr wichtig, mit uns zu sprechen. Zwar gäbe es auch Tage, an denen sie nicht über das erlebte sprechen könne, aber es schien so dass heute nicht so ein Tag war. Ich bewundere diese Frau, die ihren Sohn mit nur zwei Knochen beerdigen musste. Deswegen kann ich verstehen, dass sie wohl niemals den Menschen in irgendeiner Weise vergeben würde könne oder so etwas wie inneren Frieden finden würde. Die gute halbe Stunde mit Fadila Efendić verging wie im Flug und wir waren alle sehr betroffen. Doch nun sollte es noch etwas Emotionaleres auf uns warten. Das einerseits faszinierende und anderseits abscheuliche an den Jugoslawien-Kriegen ist die Dokumentation jeglicher Ereignisse auf Video. Unser Raum verdunkelte sich und wir sahen nochmals die Chronologie von Srebrenica. Wer glaubt, diese Ereignisse lassen einen kalt, der hat sich getäuscht. Das unendliche Leid der Menschen, die Selbstgerechtigkeit der bosnisch-serbischen Truppen und vor allem Exekutionen von Menschen. Alles festgehalten in Bewegtbild und alles nun vor unseren Augen. Tief betroffen blieben wir alle nach der Dokumentation sitzen und konnten nur langsam zu der Gedenkstätte auf der anderen Straßenseite gehen.
Während des Gesprächs und des Films hatte es geregnet und als wir aus dem Gebäude traten konnten wir sehen, wie sich die Sonne ihren Weg durch die Wolken erkämpfte und den Nebel langsam aufsteigen ließ. Es schien so, als wolle uns das Wetter seinen Teil der Geschichte auch mitteilen und die mystische Stimmung aus Leid und Hoffnung verdeutlichen. Die Gedenkstätte von Potočari strahlte eine seltsam friedliche Ruhe aus. Während wir auf die tausende Grabsteine blickten, kamen mir zwei Aussagen des heutigen Tages in den Kopf, die ich auch wieder als Schlusswort und als Appell nutzen möchte. Wir hatten sowohl unseren Museumsführer als auch Fadila Efendić, ob sie von den UN genug Anerkennung erhalten hatten, aber ihre Antwort darauf war: Die Vereinten Nationen haben sich vielleicht entschuldigt, aber das wird niemals genug sein, um ihnen wirklichen zu verzeihen. Die Hoffnung von beiden ist eher, dass wir von den Geschehnissen lernen und diese zukünftig verhindern. Nun ich möchte nicht pessimistisch wirken, aber ich möchte nur die Orte Butscha und Irpin erwähnen. Es scheint auch noch nach 30 Jahren so, als würde die UN noch weitere Zeichen benötigen. Frank-Walter Steinmeier hatte bei einem Besuch in Auschwitz geschrieben „Wir wissen, was passiert ist und wir müssen wissen, dass es wieder passieren kann“. Daher ist es sowohl unsere persönliche Aufgabe als auch die Aufgabe der Politiker, solche Geschehnisse nicht mehr passieren zu lassen, denn wie Fadila Efendić sagte: „Der Krieg wurde von Politikern gemacht, nicht von gewöhnlichen Menschen“.
Renate Kaufmann 26. September 2022
Lieber Nils! Danke für diesen erschütternden und sehr,sehr unter die Haut gehenden Bericht!
Danke, dass Du uns so teilnehmen lässt!