Nils Blog

Kriegsmathematik

Kaum in Belgrad so richtig Fuß gefasst hieß es für uns an Tag 7 wieder den Koffer zumachen und bereit machen für die Weiterreise. Nach Sarajevo ging es nun immer Schlag auf Schlag mit den verschiedenen Destinationen und wie im letzten Beitrag schon erwähnt war ich manchmal etwas wehmütig, die einzelnen Orte schon wieder verlassen zu müssen. Aber was soll ich hier jammern. Ich wollte ja auch etwas sehen, erleben und erfahren. Erlebnis Nummer 1 an diesem Tag war eine volle Lobby. Schon als wir gegen kurz nach 24 Uhr abends in unser Hotel zurückgekehrt waren hatte sich diese Gruppe in der Lobby befunden. Doch scheinbar hatten sie noch ein Zimmer bekommen und wollten jetzt genau wie unsere Gruppe frühstücken. An sich ja eigentlich kein Problem, nur ich hatte ja schon beim letzten Mal berichtet, dass unser Hotel Probleme bei der Verfügbarkeit von Essen hatte und mit dieser ungeplanten Gruppe verschlechterte sich die Lage. Es galt nun schon fast das Motto: Nimm was du bekommst, denn die Bediensteten kamen nicht hinterher die Speisen und Getränke aufzufüllen. Zur Verteidigung muss man aber sagen, dass diese ungeplante Gruppe gestern ihren Anschlussflug nach Montenegro verpasst hatte und in der Nacht noch eine Alternative gebraucht hatte. Trotzdem war ich nicht unglücklich, als wir mit unseren Koffern das Hotel verließen und Richtung Bus gingen.

Alles eingeladen fuhren wir nur knapp 10 Minuten, bevor wir von unserem Busfahrer an einer Straße abgesetzt wurden und der Bus wieder irgendwo in den Straßen von Belgrad verschwand. Wir hingegen standen vor dem Banjica Concentration Camp Museum. Vielleicht hat nun der ein oder andere schon die Stirn gerunzelt und sich gefragt: „Ein Museum zu einem Konzentrationslager in der Hauptstadt Serbiens?“ Mag vielleicht noch nicht ganz so ungewöhnlich sein, aber komischer wird es, wenn ich die Information dazu gebe, dass hier tatsächlich ein Konzentrationslager war. Gute fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt hatte es im Zweiten Weltkrieg hier einen Komplex gegeben, der zur Unterbringung der meist serbischen Juden gedacht war. Heute ist davon nicht mehr alles erhalten, aber das Museum, das 1982 eröffnet wurde, ist in einem Teil der ehemaligen Anlage untergebracht und stellt hier in einer Dauerausstellung Überreste aus der Nazi-Zeit sowie Bilder, Zeichnungen sowie persönliche Gegenstände aus. Außerdem kann man in einer Replik die Unterbringung der Juden nachvollziehen und durch ein Modell den Aufbau des Lagers von damals erahnen. 

Bevor ich mit der Geschichte über Banjica fortfahre, möchte ich an dieser Stelle einen kleinen Einschub machen. Bereits in Sarajevo wurde uns als Gruppe von den Teamenden gesagt, dass wir viele Stadt-, Museums- oder Denkmalsführer haben würden und diese sich sicher in ihrer Qualität unterscheiden. Damals hab ich dem ganzen etwas weniger Beachtung geschenkt und auch die Stadtführung in Sarajevo war so energiegeladen und persönlich, dass sich dieser Gedanke schon wieder in meinem Gedächtnis verschwunden war. Doch nun drängte er sich langsam, aber stetig an die Oberfläche meines Bewusstseins. Der Grund dafür war der Museumsführer im Banjica Museum. Nach einem kurzen Hallo folgte ein Monolog von fast 40 Minuten, in denen wir an einer Stelle standen und die Geschichte der Juden in Serbien im 20. Jahrhundert über die Eröffnung des Konzentrationscamps bis hin zu den Auswirkungen erfuhren. Ich möchte mich an dieser Stelle entschuldigen, wenn ich es nicht geschafft habe, alle Informationen zu erfassen und aufzuschreiben, aber dieses Format machte es auch nicht leicht. Nach und nach setzten sich immer mehr Teilnehmende hin und schalteten geistig ab. Das ist sehr schade, weil es auch hier wieder viele Geschichten gibt, die gehört werden sollten und deshalb erwähne ich sie auch in meinem Blog. Nun aber zurück zu dem Banjica Konzentrationslager.

Das Konzentrationslager wurde im Juli 1941 eröffnet und bis Oktober 1944 betrieben. In dieser Zeit kamen alleine hier rund 4.200 Menschen um, obwohl die genaue Zahl nicht bekannt ist. Das hat viel mit dem Aufbau dieses Lagers zu tun, denn dieses war anders als andere Konzentrationslager ausgelegt. Ich werde im folgenden nun alles sehr sachlich schreiben und die Motive für das Lager aus Nazi-Sicht darstellen. Ich muss aber klarstellen, dass ich diese Meinung nicht vertrete und diese Geschichten nicht so rational sind, wie sie vielleicht in diesem Blog erscheinen mögen. Wie schon erwähnt war das Lager 1941 mit dem Ziel errichtet worden, Juden zu deportieren. Es war also nur eine Übergangsstation und schlussendlich sie wurden dann nach Auschwitz oder Mauthausen per Zug gebracht. Trotzdem starben in der Zeit der Haft auch Menschen und die Anzahl von 4.200 Opfern kann nur geschätzt werden, da einige Gefangene kurz vor ihrem Tod entlassen wurden, um sich nicht um die anfallenden Leichen kümmern zu müssen. Trotz der Nähe zur Stadt waren hier zu Spitzenzeiten über 20.000 Menschen inhaftiert. Belgrad ist in dieser Hinsicht einzigartig, da es hier vier Lager in direkter Nähe zur Stadt gab. Trotz dessen oder vielleicht gerade deshalb änderte sich das Ziel des Lagers während des Krieges. Statt sich nur auf Juden zu konzentrieren, wurde das Lager bald schon mehr als Gefängnislager für politische Gegner benutzt. Die Inhaftierten saßen hier mehr oder weniger ihre Zeit ab, bis sie von Nutzen für die Deutschen waren. Denn wie das mit Besatzern so ist, nicht jeder mag sie und es kommt zu Aufständen, Hinterhalten und Morden. So etwas möchte man als Besatzungsmacht aber natürlich verhindern und daher musste die Bevölkerung mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen, sobald ein deutscher Soldat verschwand, verletzt wurde oder starb. Das Mittel der Wahl waren hierfür Exekutionen nach einem Schlüssel. Diesen werde ich nachher noch nennen. So diente dieses Lager also stumpf gesagt als Vorratslager für die Exekutionen, um schnell Menschen hier zu haben, wenn sie benötigt wurden. Eine wirklich perfide Sache meiner Meinung nach und ein trauriges Beispiel von deutscher Planung und Effizienz. Da Belgrad nun nicht gerade das Ende der Welt ist, kamen viele Angehörige an das Lager, um eventuell ihre Verwandten zu sehen oder auch um Botschaften, die während der Deportation geschrieben und aus dem Wagen geschmissen wurden, einzusammeln. So konnten sie die Nachrichten lesen und sich oder ihre Kinder beispielsweise bei den Nachbarn verstecken. So überlebten ein paar tausend Juden in Serbien die Shoah. Doch so viel Glück hatten nicht alle. Zwischen 1941 und 1943 wurden insgesamt ca. 60.000 Menschen in Banjica erschossen oder starben wegen der Lagerumstände. Das mag für den ein oder anderen in Anbetracht und Vergleich mit anderen Opferzahlen von anderen Konzentrationslagern wenig erscheinen (im Vergleich in Auschwitz kamen 1,3 Millionen Menschen um), aber jedes Leben zu Unrecht früher beendet wurde, ist eines zu viel und da macht es für mich keinen Unterschied, ob es nun 5 oder 5.000 Menschen waren. Wie gesagt, leider machte es uns der Museumsführer nicht leicht allem zu folgen, aber die folgende halbe Stunde der Selbsterkundung ermöglichte uns nochmals das Museum besser wahrzunehmen.

Wieder am Tageslicht und an der frischen Luft wachten einige langsam auf von dem Delirium und zusammen warteten wir auf unseren Bus, mit dem es nun aus Belgrad gehen sollte. Doch auch hier war die Fahrt nicht lange. Nach gut 20 Kilometern kämpfte sich der Bus ein weiteres Mal schmale Serpentinen den Berg hoch. Unser Ziel war der Avala Berg, an dem wir zu Mittag essen sollten. Ich glaube keiner von schaffte es seinen Teller zu leeren. Mein Moussaka konnte ich zu 2/3 essen, bevor mir mein Magen sagte, dass es nun wirklich genug sei. Mit vollem Magen machten wir einen kleinen Spaziergang im Sonnenschein und zum ersten Mal schien es so, dass das Wetter es gut mit uns meinte. Ohne Pullover erreichte ich das Denkmal des Unbekannten Soldaten. Mittlerweile waren wir ja schon geübt, was das Betrachten von Denkmälern anging und so war unsere Aufgabe eine recht simple: Schaut euch dieses Denkmal an und diskutiert, was ihr gelungen findet und was nicht. Danach gestaltet euer eigenes Denkmal. Ich muss zugeben, mir hat diese Aufgabe sehr viel Freude bereitet. Endlich redeten wir über etwas, das wir hier vor uns sahen und wir auch physisch erleben konnten. Zugleich konnten wir unserer Kreativität freien Lauf lassen und verschiedene Ansätze durchspielen. Falls hier jemand auf der Suche nach Architekten/Künstler für künftige Denkmäler ist: Ich kann die gesamte Gruppe nur empfehlen. Nach gut einer Stunde hatten wir vier Denkmäler erschaffen, die alle anders als das vor uns stehende waren. Nach der Präsentation durften zuerst das Publikum Interpretationen abgeben, was es in den einzelnen Teilen des Denkmals sah, bevor die Erschaffer ihre Gedanken darlegten. Ich muss sagen, dass auch dieser Teil sehr spannend war, da man sowohl als Publikum sowie auch als Präsentierende von den Aussagen der anderen überrascht wurde. Doch auch die schönste Zeit hat einmal ein Ende und mit der sinkenden Sonne mussten wir uns von der tollen Aussicht und dem Avala Berg verabschieden, denn wir mussten ja noch ein Hotel erreichen.

Diesen Abend würden wir in der viertgrößten Stadt Serbiens verbringen: Kragujevac. Auch hier wieder keine Sorge, falls der Name unbekannt sein sollte, trotz dass es bis 1841 die Hauptstadt des Landes war. War er mir bis vor der Reise auch, aber genau deswegen heißt es ja auch Bildungsreise und nicht Urlaub. Mein Tag startete dieses Mal anders als sonst. Ich hatte mitbekommen, dass mein polnischer Zimmerkollege Tomasz morgen einen kleinen Lauf vor dem Frühstück absolvieren wollte. Nun ich hatte damit zwar nicht geplant, aber meine Sneaker, eine Sporthose und ein Sportshirt hatte ich dabei, also warum nicht? Hatte ich schon berichtet, dass es hier kälter war, als wir uns das gewünscht und vorgestellt hatten? Im Morgengrauen bei 5 °C machte sich die dreiköpfige Gruppe los für einen kleinen 5-Kilometer-Lauf. Dabei entdecken wir ein Gebäude, das mit auf Serbisch wohl Museum des 21. Oktober aussagte. Keiner von uns war aber des Kyrillischen mächtig. Doch wie sich nach einer erfrischenden Dusche und dem wohlverdienten Frühstück herausstellen sollte, hatten wir goldrichtig gelegen und mehr oder weniger zufällig unser heutiges Ziel ausgemacht. Das Museum zum 21. Oktober 1941 war auf einem kleinen Hügel gelegen und arbeitete die Geschehnisse rund um diesen Tag auf. Ich versuche auch hier wieder alles in eine kurze Zusammenfassung zu bringen und werde sicher das ein oder andere Detail auslassen. Ich empfehle daher immer noch weitere Artikel oder Dokumentationen zum Thema zu lesen/schauen, wen das Thema tiefergehend beschäftigt. Ich möchte hier nur der Stein des Anstoßes sein.

Kragujevac wurde wie Belgrad auch von Nazideutschland und den Achsenmächten besetzt. Tja und wie in Landeshauptstadt war es auch in der ehemaligen. Partisanen und Monarchisten machten den Besatzern das Leben schwer und errichten Hinterhalte. Die beiden Anführer hinter den Gruppen waren Mihajlović und Tito für die Partisanen. Na, fällt ein Name auf? Nun ich will es hoffen, doch dieses Mal geht es nicht um die Partisanen und Tito, sondern die Monarchisten. Diese nahmen nämlich bei einem Aufstand deutsche Soldaten gefangen und reagierten nicht auf die Forderungen der Besatzer. Die Deutschen versuchten, ihre Geiseln zu befreien, jedoch schlug die Operation fehl. Daher wurde am 18.10.1941 damit angefangen, Menschen festzunehmen, die im Gegenzug zu den Soldaten hingerichtet werden sollten. Allgemein galt für die Deutschen folgende Faustregel: Pro 1 verwundetem deutschen Soldaten wurden 50 Einheimische und bestenfalls Widerständler erschossen. Für 1 toten deutschen Soldaten mussten 100 Menschen von Serbien ihr Leben lassen. So waren die Strafen „gerecht“ und wurden jedes Mal gleich vergolten. Ein deutsches Leben war also zwischen 50 bis 100 serbische Leben wert. Welch eine perfide Mathematik, aber es herrschte Krieg und dieser rechtfertigte wohl diese Kalkulation. Bei dem Aufstand wurden zehn Soldaten getötet und 26 verwundet und daher musste nach der Logik der Nazis 2.300 Zivilisten sterben. Wie gesagt wurde damit am 18.10. begonnen und erst in den umliegenden Dörfern von Kragujevac die Menschen gefangen genommen. Hier vermutete man mehr den Widerstand als direkt in der Stadt. Jedoch merkten die Besatzer bald, dass die Anzahl an Menschen noch nicht ausreichte, um die Tode zu rächen. Daher wurden in den folgenden Tagen auch Menschen aus Kragujevac gefangen genommen. An das Gute im Menschen glaubend hatten viele die Hoffnung, dass sie „nur“ für einen Arbeitseinsatz zusammengetrieben wurden. Nun, das sollte sich nach drei Tagen am 21.10.1941 als falsch herausstellen. In dem Museum, das die Ausstellung zu diesem Schicksalstag beinhaltet, finden sich Briefe, die einzelnen Gefangen zugeordnet werden konnten. Die meisten dieser waren entstanden, als die ersten Exekutionen stattfanden und die Gefangenen die Schüsse hörten. Viele verabschiedeten sich in wenigen kurzen Zeilen von ihren Familien, andere forderten Rache für die Taten der Nazis. Am bewegendsten fand ich jedoch die folgende Nachricht: „Schickt mir morgen kein Brot mehr.“ Diese Nachricht stammt von Jakov Medina, der in einer ganz rationalen Nachricht schreibt, dass er diesen Tag wohl nicht überleben wird. Vielleicht hatte er es nicht fertig gebracht, die direkten Worte zu wählen, doch die Nachricht kam an. Auch bei mir nach über 80 Jahren. Doch das war noch nicht alles. Eine der besonders tragischen Geschichten ist die Exekution von Schulklassen, die ebenfalls gefangen genommen wurde. Ihre Lehrer hätte gehen können und nicht als Gefangene ihnen folgen müssen, doch alle spürten eine solche Verantwortung für diese Menschen, dass sie mit ihnen starben. 300 junge Menschen, deren Leben einfach so ausgelöscht wurde. Das ganze Massaker dauerte 3 Tage und 2.794 Menschen waren in dieser Zeit umgekommen. Auch hier ist es wieder sehr schwer vorstellbar, wie man sich bei einer solchen Situation gefühlt hat als Wehrmachtssoldat. Auf den Tag genau drei Jahre späte wurde Kragujevac befreit und die Menschen begannen sofort mit dem Gedenken an die Opfer des Massakers. 

Nach dem Museum, mit diesen Ereignissen im Kopf, machten wir uns in Gruppen auf in den Gedenkpark, der gleich neben dem Museum beginnt. Es ist ein riesiges Areal und wir konnten nur einen Ausschnitt ansehen, aber das Ziel war auch hier wieder sich erst die Denkmäler anzusehen und dann eine Interpretation abzugeben. Nachdem wir für unser Denkmal die Experten geworden waren, konnten wir den anderen neuen Gruppenmitgliedern unsere Expertise weitergeben und so erklären, für was das Denkmal steht. Wer es bis hier hin mit dem Lesen geschafft hat, dem verrate ich nun, dass das Titelbild eins dieser Denkmäler ist. Es heißt „Unterbrochener Flug“ und ist den 300 Schülern gewidmet, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Bei näherem Betrachten sieht man auch auf der einen Seite, die toten Schüler, die zusammen aufgewachsen, zusammen gelernt und zusammen gespielt hatten. Nun hatten Sie alle auch den gemeinsamen Tod. So oder so ähnlich war auch eine kyrillische Inschrift auf einem Stein neben dem Denkmal gewesen. Wieder sehr berührend und damit ging es für uns nur noch zum Mittagessen. Komischerweise waren wir im gleichen Restaurant wie eine Hochzeitsgesellschaft gelandet und gaben so ein interessantes Bild ab. Die fröhlichen Menschen in schicken, Kleidern und Anzügen und wir, die leicht betrübt und „normal“ gekleidet Mittag essen wollten. Die Stimmung hob sich aber bald wieder und frohen Mutes stiegen wir wieder in den Bus, denn es ging weiter. Bye bye Serbien und willkommen Nordmazedonien. 

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